Experten schätzen, dass bis zu 6 Prozent der Kinder unter ADHS leiden. Die Chinesische Medizin präferiert eine Behandlung ohne Medikamente. Das gelingt vor allem mit Zeit und Zuwendung.
In der täglichen Arbeit mit den sogenannten „ADHS-Kindern“ stellen sich immer wieder Fragen:
- Welche Ursachen des ADHS sind gesichert?
- Welche Faktoren in der Lebenswelt des Kindes können Einfluss auf die Entwicklung eines ADHS haben?
- Wie kann auf spezifische Entwicklungsbedürfnisse der Kinder eingegangen werden?
- Welchen Einfluss hat die Langzeit-Einnahme von Dopingmitteln auf Kinder in einer ihrer wichtigsten Entwicklungsphasen?
Kontroverse Diskussionen um verschiedene Ursachenmodelle und Behandlungsansätze verwirren immer wieder Eltern, aber auch Lehrer.
Seit über 25 Jahren behandelt die Klinik am Steigerwald chronisch kranke Menschen. Diese Arbeit konfrontiert die Ärzte regelmäßig mit Medikamenten, die rasch Symptome lindern, letztlich aber entwicklungsfeindlich und in der Langzeitmedikation nicht unproblematisch sind. Gleiches ilt für die Psychostimulanzien-Therapie von ADHS-Kindern. Deswegen wird in der Klinik am Steigerwald bewusst anders behandelt – ohne Psychostimulanzien. Die gefundenen Lösungen stützen sich auf eine zeitgemäße Interpretation der Chinesischen Medizin. In der Verbindung mit Spiel und Bewegung, mit psychotherapeutischen und pädagogischen Elementen können die Behandlungsspielräume genutzt werden, die sich unter der chinesischen Arzneitherapie eröffnen.
Im Verlauf der Behandlung wird oft beobachtet, wie das Konstrukt AD(H)S in seine Bestandteile zerfällt und den Blick auf sehr individuelle Schicksale frei gibt. Allen Kindern gleich ist: sie stehen unter einem permanenten Druck. Ein Brennpunkt im AD(H)S-Geschehen ist Schule und schulisches Lernen. Wir wissen: Lernen braucht Zeit. Kindliche Entwicklung braucht Zeit. Unterliegt das Lernen in den ersten Lebensjahren noch keinem strengen Zeitdiktat, ändert sich das spätestens mit Eintritt in die Schule.
Schulischer Zeitdruck bremst individuelle Entwicklung
Kurze Erinnerung: Wir Erwachsene haben unsere Freude daran, wie das Kind sprechen lernt, wie sein kaum zu bremsender Mitteilungsdrang einige Monate lang mit Lallen und Tönen experimentiert, um dann Wörter, ganze Sätze und schließlich sinnvolle Mitteilungen hervorzubringen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die ersten Worte nun mit 10 Monaten oder erst viel später oder gar früher aus dem Mund des Kindes kommen.Ähnlich großzügig sind wir, wenn im kindlichen Lehrplan Stehen und Laufen an der Reihe sind. Auch hier geben die Eltern den Zeitpunkt nicht vor, bis zu dem das Kind stehen oder laufen können muss. Sie lassen ihm Zeit. Mehr noch: Es ist geradezu rührend, den Kleinen dabei zuzusehen, wie sie versuchen, sich zum Stand hochzudrücken oder hochzuziehen; man erfreut sich an den charmanten Misserfolgen des Kleinkindes und gibt immer wieder Hilfestellung und Unterstützung. Das Kind wiederum rackert sich unermüdlich, immer wieder aufs Neue ab und ist durch Misserfolge nicht zu entmutigen.
All dies geschieht freiwillig, im Spiel, ganz ohne Termindruck. Dem drucklosen Lerntrieb steht spätestens mit der Schulzeit eine schwere Prüfung bevor. Aus Spiel wird Ernst; aus Drang wird Zwang. Taktgeber für die kindliche Lernentwicklung ist der Lehrplan. Dieser sieht vor, dass das Kind innerhalb einer bestimmten Zeitspanne die entsprechenden Buchstaben nicht nur schreiben, sondern auch lesen kann. Alle müssen zur gleichen Zeit den Zahlenraum bis 20 beherrschen usw. Was passiert mit einem Kind, das hierfür etwas länger braucht? Misserfolge beim Lesen, Schreiben und Rechnen werden nun nicht mehr mit einer großzügigen Toleranz geduldet wie dies noch beim Sprechen und Laufen lernen der Fall war. Die Zeit drängt, das Leben ist Ernst.
Ritalin nimmt ADHS-Kindern wichtige Entwicklungs- und Reifezeit
Es sind nicht unbedingt minderbegabte Kinder, die an dieser Schwelle stolpern. Bei manchen ist vielleicht ihr märchenhaftes Innenleben so hoch entwickelt, dass eine Konfrontation mit dem „Realitätsprinzip“, der Erwachsenenwelt gescheut wird. Zeit für eine individuelle kindliche Entwicklung ist hier nicht mehr vorgesehen.
Sicher ist: die Unfähigkeit, sich unter Bewahrung der eigenen Spontaneität in die Anforderungsstrukturen der Gesellschaft einzufädeln, kann zu einer inneren Katastrophe führen. Das Kind will, aber es kann nicht. In ihm baut sich ein innerer Druck auf, der nicht weiß, wohin. Die Schnittstelle zur äußeren Realität, der Realität der Leistungsgesellschaft, hat sich nicht organisch entwickeln können; ihre geschmeidige Durchlässigkeit ist verloren gegangen. Der nicht eingebundene kindliche Energieüberschuss entwickelt chaotische Ersatzaktivitäten. In ihnen lebt sich die Reaktion auf die nur fordernd erlebte Erwachsenenwelt aus, teils durch oppositionelles Verhalten, teils durch leerlaufende kontraproduktive Überaktivitäten, teils durch innere Emigration in Traumwelten. Und damit ist der Teufelskreis da. Das Kind „funktioniert“ nicht, die Erwachsenen reagieren mit zunehmendem Druck, das Kind funktioniert dadurch noch schlechter usw.
Ein Kind leidet massiv darunter, wenn es den Ansprüchen von Schule und Elternhaus nicht gerecht wird. Das Auseinanderklaffen der eigenen Spontaneität und der Normen der Erwachsenenwelt bleibt ihm letztlich unbegreiflich. Zum Glück gibt es eine Tablette, die es der Gesellschaft erspart, die mühselige Arbeit an der verloren gegangenen Schnittstelle auf sich zu nehmen. Doch auch hier gewinnen wir keine Zeit, sondern verlagern das Problem vielmehr nur um ein paar Jahre. Mehr noch: Wir rauben dem Kind die so wichtige Entwicklungs-und Reifezeit. Unsere Erfahrung zeigt, dass Kinder unter Ritalin keine wirkliche Entwicklung durchlaufen, emotional nicht reifen, keine wirklichen Interessen ausbilden. Alles ordnet sich dem Funktionieren unter. Bis zu dem Moment, wo das Kind (nach jahrelanger Einnahme verständlich) die Tablette nicht mehr nehmen möchte bzw. die Medikation irgendwann ihre Wirkung verliert. Nur dann ist es in den meisten Fällen zu spät. Denn dann ist sie verloren: die für das Kind so wichtige Entwicklungs- und Reifezeit.
ADHS-Behandlung ohne Ritalin braucht Zeit
Es gilt also der Entwicklung unserer Kinder wieder Zeit und Raum zu geben. Die ADHS-Behandlung in der Klinik am Steigerwald ist nicht symptomunterdrückend und deshalb dauert es mitunter länger, bis die ersten positiven Veränderungen zu sehen sind. Es zählt, die Individualität des Kindes zu ergründen, denn jedes Kind ist anders. Und das ist gut so!
Eine solche ADHS-Behandlung braucht natürlich Zeit. Zeit, die das Kassensystem für unsere Kinder nicht vorsieht. Stattdessen werden in Deutschland ca. 600 000 Kinder mit Psychostimulanzien wie Ritalin behandelt. Oder anders gesagt: ruhiggestellt. Eine ausschließlichen Verordnung von Medikamenten, was leider zur alltäglichen Praxis gehört, ist keine Behandlung. Eine gute ADHS-Behandlung sollte mehr sein: eine bewusste Auseinandersetzung mit dem jungen Patienten, ein Begreifen, ein Verstehen des Kindes, ein in Kontakt gehen. Solch eine Behandlung geht nur über Bindungs- und Beziehungsaufbau. Und über Nachdenken. Über das Kind, seine Verstrickungen im Teufelskreis und wie ihm und seiner Familie wieder herausgeholfen werden kann. Das ist nicht immer einfach. Aber es lohnt sich. Die Klinik freut sich über jedes Kind, das ohne Ritalin wieder in der Lage ist, zu lachen, zu essen, zu lernen, Interessen auszubilden, seinen Hobbys nachzugehen und Freundschaften zu schließen.
Geben wir unseren Kindern wieder Zeit für ihre ganz persönliche Reifung.